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Gesellschaft & Medien 2/4
Februar 2004
Mehr Gesellschaft & Medien
Es zu lesen bedeutet, es zu rechtfertigen
Just because you read it in a magazine or see it on the TV screen, don’t make it factual...1, so heisst es in Michael Jacksons Song „Tabloid Press“ von 1995.

Wahre Worte, und noch immer aktuell. Lesen wir doch jeden Tag in den Zeitungen massenhaft Artikel und Stories über Menschen, von denen wir meinen, uns aufgrund dessen ein Bild machen zu können.

Aber können wir das wirklich?

Wir schalten den Fernseher ein, um uns zu informieren. Schließlich wollen wir überall mitreden können, zu allem eine Meinung haben.

Wir lesen, sehen, hören und staunen, stürzen uns wißbegierig auf die suggerierten Werte.

Vielleicht halten wir kurz den Kopf schräg und wundern uns, denken dann aber „Wird schon einen wahren Kern haben, wenn es in der Zeitung steht.“

Und doch haben wir uns an diesem Punkt bereits eine Meinung gebildet.

Eine Meinung, die auf dem gerade aufgenommenen basiert, eine Meinung, die je nach Tenor der Berichterstattung positiv oder negativ ist.

Meist dauert es nicht lange, bis wir mit dem gleichen Thema in einer anderen Zeitung, in einem anderen Bericht konfrontiert werden.

Was wir sehen und was wir hören ist glaubhaft. Und je öfter etwas wiederholt wird, desto glaubhafter wird es. Auch desto wahrer?

Machen wir uns überhaupt noch die Mühe, Dinge zu hinterfragen, hinter die Kulissen zu blicken, zu kritisieren, wenn wir schon von diesen Dingen ein Urteil über andere Menschen abhängig machen?

Seltenst. Meist machen wir uns nicht einmal die Mühe, unser eigenes Empfinden für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu fragen, wenn wir in den Medien etwas als richtig oder falsch, wahr oder unwahr präsentiert bekommen.

Oder wir sehen darüber hinweg. Es gibt ja die Pressefreiheit. Und uns betrifft es ja nicht. Außerdem „schreiben die doch sowieso was sie wollen.“

Und genau das ist der Punkt. Sie schreiben was sie wollen. Und wir, wir glauben, was sie wollen. Und handeln danach.

Speculate to break the one you hate. Circulate the lie you confiscate. Do anything for news, you’d cruzify the Lord2, klagt Michael in seinem Song an.

Am 23. November 2000 veröffentlichte die BILD – Zeitung einen Artikel mit der Schlagzeile „Kleiner Joseph, gegen 50 Neonazis hatte er keine Chance“. Es wurde berichtet, wie Joseph 1997 am hellichten Tag in einem gutbesuchten, Sebnitzer Schwimmbad von 50 Neonazis überfallen, geschlagen, gefoltert und anschließend im Schwimmbecken ertränkt wurde. Viele hätten die Hilferufe des Jungen gehört, aber niemand der 300 Besucher des Schwimmbades habe geholfen. Ein Gutachten ergab später, dass der Junge in Wirklichkeit an Herzversagen starb und der in der BILD geschilderte Hergang ausschließlich auf einer Vermutung der Mutter basierte. Das Hamburger Abendblatt entschuldigte sich daraufhin öffentlich, durch das voreilige und leichtfertige Übernehmen der Berichte über den schrecklichen Mordverdacht, eine ganze Region in Misskredit gebracht zu haben.

Anja Willkommen, die die Rolle der Presse im „Fall Joseph“ untersuchte kam zu der Erkenntnis, dass ein Thema, publiziert von der BILD – Zeitung, innerhalb eines Tages von nahezu allen bundesdeutschen Medien unüberprüft aufgegriffen wurde. Frau Willkommen erklärt die mangelnde gründliche Recherche damit, dass das Thema einen hohen Nachrichtenwert besass und ein hohes Interesse seitens der Leser versprach, zudem es emotional sehr besetzt und aufgrund des mutmaßlichen Verbrechens sensationell war.

Durch diese unüberlegte, sensationsbestrebte Form der medialen Berichterstattung wird es wirklichen Opfern von Neonazis nicht unbedingt leichter gemacht, hundertprozentig ernst genommen zu werden und nicht, ebenfalls leichtfertig, "Übertreibung" unterstellt zu bekommen. Denn der Einfluß der Medien und deren vermittelte Werte auf das Unterbewusstsein der Menschen ist oft größer, als wir für möglich halten.

Ein weiteres Beispiel für die unreflektierte Übernahme von Skandalstories seitens der Medien ist Reinhold Messner, Bergsteiger und Abgeordneter der Grünen im Europaparlament. 1970 verlor er seinen Bruder bei einer gemeinsamen Bergbesteigung. In einem Buch wurde Messner vor nicht allzu langer Zeit unterstellt, seinen Bruder im Stich gelassen zu haben und ihn somit „umgebracht“ zu haben. Die Printmedien übernahmen die Aussage in dieser Formulierung. Bei J.B. Kerner wurden Interviewausschnitte gezeigt, in denen Messner unter Tränen berichtete, dass seine vier Kinder in der Schule gefragt wurden, ob ihr Vater ins Gefängnis müsse, weil er seinen Bruder „umgebracht“ habe. Es kam zu einem Prozess, den Messner gewann. Die Gegendarstellung in den Zeitungen war jedoch winzig und seine Glaubwürdigkeit und sein Ruf, aufgrund der Berichterstattung in den Medien stark beschädigt.

Oder Michael Jackson, der den in diesem Artikel zitierten Song geschrieben hat, um sich gegen die Machenschaften der Presse zu wehren.
Der wohl bekannteste Vorfall der Medienhetze rund um Michael Jackson ist der Vorwurf der Pädophilie.

Nachdem Michael Jackson nach seinen überragenden Erfolgen von 1979 – 1983 zum Weltstar geworden war, war auch der Hype um ihn, für ihn selbst als Menschen, kaum noch erträglich. „Ich weine sehr oft. Ich hatte nie eine Kindheit. Ich hatte nie Freunde. Ich bin oft sehr einsam, spreche sogar schon mit meinen Tieren“, bekannte Michael, der zu dem Zeitpunkt schon mehr und mehr in unschönes Gerede gekommen war: Der Preis des Erfolgs.Nachdem er die Neverland Ranch gekauft hatte, die er in einen Märchenpark und Zoo umfunktionierte, wurden die Gerüchte um seine angeblichen Absonderheiten immer lauter.
Ein letztes Mal versuchte Michael Jackson, den Gerüchten ein Ende zu bereiten: “Es ist nicht wahr. Es ist gelogen. Ich bin nur friedfertig. Niemand versteht mich. Wieso lassen sie mich nicht einfach in Ruhe? Bitte glaubt die Stories nicht. Bitte glaubt es nicht.“

Anfang der 90er zog es dann verhehrende Gerüchte nach sich, dass Michael Kinder zu sich auf die Neverland Ranch einlud. Ihm wurde eine Affaire mit einem 13 jährigen Jungen nachgesagt. Die Medien übten in ihrer Sensationsgier Druck auf die Familie des angeblich sexuell mißbrauchten Jungen aus. Es kam zu einer Zivilklage. Diesmal unfreiwillig, musste Michael Jackson sich gegen die Unterstellungen zur Wehr setzen. Unter Tränen erklärt er:“Ich bin unschuldig.“ Gerichtliche Untersuchungen erwiesen seine Unschuld, die Staatsanwaltschaft musste einräumen:“Alles gelogen.“ Die Presse sah nicht ein, von diesen Erkenntnissen zu berichten.
Die Familie des angeblich mißbrauchten Jungen war in ihrer Geldgier nicht zu halten. Weiterhin wurde die Presse zu Negativ – Artikeln angeheizt, die sich um Berichterstattung in dieser Angelegenheit nicht zweimal bitten ließ. Um weitere Lügen und einen großen Imageschaden zu vermeiden, zahlte Michael Jackson der Familie schließlich ein Schweigegeld. Viele Leute werten diesen Schritt als Schuldbekenntnis. Ein tiefer Knick in der Karriere des Weltstars Michael Jackson. Und nur ein Beispiel aus einer Reihe von Verleumndungen.

Scandal, with the words you use. You say it’s not a sin but with your pen you torture men.3

In Artikel 1 des GG heißt es „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Durch den Schutz der Menschenwürde soll gewährleistet sein, dass systematische Verletzungen der Ehre und Demütigungen verboten sind.

Cometverleihung 2003. Ein überragendes Line-Up an Top-Stars aus Musik- und Medienszene gab sich die Ehre, angefangen bei Nena und Herbert Grönemeyer über internationale Größen wie Shania Twain und HIM bis hin zu den Newcomern Daniel Küblböck, Patrick Nuo und Alexander. 14 Auszeichnungen der unterschiedlichsten Kategorien wurden unter den knapp 70 Nominees verliehen.
Es hätte ein schöner und interessanter Abend sein können mit einem enorm vielfältigen Musikprogramm, bei dem die verschiedensten Geschmacksrichtungen aufeinander treffen.
Leider mangelte es dem Publikum, welches für Musikgrößen wie Grönemeyer, Xavier Naidoo und Co. dem Comet beiwohnte, eindeutig an Respekt gegenüber anderen Künstlern. So wurden Helge Schneider, Superstar Alexander und Daniel Küblböck bei ihren Auftritten aufs heftigste ausgebuht. Bei letzterem gestattete man sogar vor seinem Auftritt noch Oliver Pocher, mit einer albernen Parodie Witze auf dessen Kosten zu reissen, was das Publikum noch mehr aufwiegelte.

Und die Medien? Sie nutzten besonders den Eklat um Daniel Küblböck zu ihren Gunsten und zugunsten skandalöser Berichterstattungen. Allem voran in der BILD – Zeitung las man in den folgenden Tagen und Wochen in ganz Deutschland hämische Berichte von Daniels „sinkendem Stern“ und von der Halbwertszeit der Retortenstars. „Pfiffe! Armer Daniel. Zu talentlos fürs lange Bühnenleben“ schrieb beispielsweise die WAZ. Die FAZ Weekly zum Vorfall: „Ein am Boden zerstörter Küblböck verließ die Bühne, um hinterher zu sagen, dass es sehr grausam war, ausgebuht zu werden. Es scheint, als fanden so einige Leute, dass Deine Stimme aus der Konservendose auch grausam war, Daniel.“

Die Medien, die über wahr und unwahr, richtig und falsch entscheiden...

Kein Wort davon, dass auch andere Künstler ausgebuht wurden, kein Wort davon, dass es keine Art ist, Menschen auszubuhen, als fehlen einem sämtliche Mittel zum zivilisierten Verhalten, weil sie nicht dem persönlichen Geschmack entsprechen.

Den medialen Berichterstattungen nach zu urteilen ist es demnach richtig, das Recht auf Menschenwürde und Respekt derartig zu mißachten, solange es nur die richtige Person trifft.

Menschenwürde?
You’re so damn disrespectable...4

Allein das Thema Daniel Küblböck weist mehr als genug Beispiele auf, was die Verletzung und Nichtachtung der Menschenwürde betrifft.

Ist es richtig, um nur ein paar Beispiele zu nennen, einen Menschen als „stotternden, bisexuellen Kindergärtner, dessen IQ idealerweise dem eines Slatkos ähneln dürfte“ (Berliner Morgenpost) zu bezeichnen? Oder als „tuntigen, quäkigen teenage Brillenträger, der bei jeder Gelegenheit heult“ (TAZ)? Oder als „bisexuellen Pyromanen, allerorts nur bekannt als ‚schräger Daniel‘“ (Spiegel Online)?

Richtig ist es nicht. Aber toleriert. Es steht doch in der Zeitung.

And you don’t have to read, and you don’t have to eat it. To buy it is to feed it. To read it sanctifies it. 5 ...


1 Übersetzung: Nur weil ihr es in einer Zeitung lest oder auf einem Bildschirm seht, stellt es nicht als Tatsache hin... zurück

2 Übersetzung: Du stellst Vermutungen an, um den, den Du hasst, fertig zu machen. Du bringst die Lüge in Umlauf, auf der Du beharrst. Tust alles, um an News zu kommen, würdest den Herrn dafür kreuzigen. zurück

3 Übersetzung: Skandal, durch die Worte, die Du benutzt. Du sagst, es ist keine Sünde, aber mit Deinem Stift folterst Du Menschen. zurück

4 Übersetzung: Ihr seit so verdammt respektlos... zurück

5 Übersetzung: Und ihr müsst es nicht lesen, müsst es nicht abkaufen. Indem ihr es kauft, unterstützt ihr es. Es zu lesen bedeutet, es zu rechtfertigen. zurück

Nicole Krayer
 
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