Stella
Schauspiel für Liebende oder Trauerspiel?
Wie bereits erwähnt, haben wir diese Rubrik aufgrund einer Idee von Daniel ins Leben gerufen, um ihn darin ein wenig bei seiner Schauspielausbildung zu begleiten. Dazu gehört natürlich auch, dass wir uns so ein „Schauspiel“ mal näher ansehen. Auf unsere Frage, mit welchem Stück er sich denn gerade beschäftigt, nannte Daniel uns Goethes „Stella“.
Eine interessante Besonderheit dieses Stückes ist, dass es zwei Fassungen der Schluss-Szene gibt, aber dazu später mehr.
Auf der Suche nach einem Weg, wie ich dieses Stück einer Leserschaft nahe bringen kann, die nicht unbedingt im Theater- oder Schauspielgenre zuhause ist, habe ich zunächst mal verschiedene Rezensionen gelesen, um dann festzustellen: So geht das nicht. Ich muss das Stück auf jeden Fall erstmal selbst lesen. Gedacht - getan: e-book runtergeladen und mit wachsender Faszination in einem Zug durchgelesen. Schon während des Lesens wusste ich: Ich muss auf jeden Fall Textstellen wörtlich wiedergeben, wenn ich einen authentischen Eindruck der Schlüsselszenen ermöglichen will. Keine Sorge, es liest sich wirklich sehr kurzweilig ;)
Die Personen/Rollen in diesem Schauspiel:
Stella, Madame Sommer/Cäcilie, Fernando, Lucie, Verwalter, Postmeisterin, Annchen (Adoptivtochter der Postmeisterin), Karl/Der Junge ("Azubi" im Posthaus), Bediente, Postillion
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Erster Akt
Vor einem Gasthaus fährt eine Postkutsche vor, die ankommenden Gäste sind "Madame Sommer" und ihre Teenager-Tochter Lucie. Aus dem Dialog zwischen Lucie und ihrer Mutter wird deutlich, dass der Vater die Familie vor Jahren verlassen hat. Lucie ist ein aufgewecktes und selbstbewusstes Mädchen, das die Abwesenheit des Vaters nicht als Verlust empfindet, die Mutter trauert ihm jedoch immer noch nach:
Lucie: Es ist nun einmal Zeit, ihn zu vergessen.
Madame Sommer: Weißt du, was das heißt: Vergessen! Gutes Mädchen, du hast, Gott sei Dank! noch nichts verloren, das nicht zu ersetzen gewesen wäre. Seit dem Augenblick, da ich gewiß ward, er habe mich verlassen, ist alle Freude meines Lebens dahin. Mich ergriff eine Verzweifelung. Ich mangelte mir selbst; ein Gott mangelte mir. Ich weiß mich des Zustands kaum zu erinnern.
Lucie: Auch ich weiß nichts mehr, als daß ich auf Ihrem Bette saß und weinte, weil Sie weinten. Es war in der grünen Stube, auf dem kleinen Bette. Die Stube hat mir am wehsten getan, da wir das Haus verkaufen mußten.
Madame Sommer: Du warst sieben Jahre alt, und konntest nicht fühlen, was du verlorst.
Der Grund für Madame Sommers und Lucies Anreise ist, dass Lucie einen "Job" als Gesellschafterin der Baronesse antreten soll, deren Anwesen gegenüber dem Posthaus liegt. Die Baronesse Stella ist eine äußerst liebenswerte Person, die ebenfalls von ihrem Mann verlassen wurden, wie in dem folgenden Dialog vermittelt wird:
Lucie: Wem ist das Haus da drüben?
Postmeisterin: Unserer Frau Baronesse. Eine allerliebste Frau.
Madame Sommer: Mich freut's, daß ich von einer Nachbarin bestätigen höre, was man uns in einer weiten Ferne beteuert hat. Meine Tochter wird künftig bei ihr bleiben und ihr Gesellschaft leisten.
Postmeisterin: Dazu wünsche ich Ihnen Glück, Mamsell.
Lucie: Ich wünsche, daß sie mir gefallen möge.
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Postmeisterin: Sie müßten einen sonderbaren Geschmack haben, wenn Ihnen der Umgang mit der gnädgen Frau nicht gefiele.
Lucie: Desto besser! Denn wenn ich mich einmal nach jemanden richten soll, so muß Herz und Wille dabei sein; sonst geht's nicht.
Postmeisterin: Nun! nun! wir reden bald wieder davon, und Sie sollen sagen, ob ich wahr gesprochen habe. Wer um unsre gnädige Frau lebt, ist glücklich; wird meine Tochter ein wenig größer, so soll sie ihr wenigstens einige Jahre dienen: es kommt dem Mädchen auf sein ganzes Leben zugute.
Annchen: Wenn Sie sie nur sehn! Sie ist so lieb! so lieb! Sie glauben nicht, wie sie auf Sie wartet. Sie hat mich auch recht lieb. Wollen Sie denn nicht zu ihr gehn? Ich will Sie begleiten.
...
Postmeisterin: Mein Mädchen hängt außerordentlich an ihr. Auch ist sie die beste Seele von der Welt, und ihre ganze Freude ist mit Kindern. Sie lehrt sie allerlei Arbeiten machen und singen. Sie läßt sich von Bauersmädchen aufwarten, bis sie ein Geschick haben, hernach sucht sie eine gute Kondition für sie; und so vertreibt sie sich die Zeit, seit ihr Gemahl weg ist. Es ist unbegreiflich, wie sie so unglücklich sein kann, und dabei so freundlich, so gut.
Madame Sommer: Ist sie nicht Witwe?
Postmeisterin: Das weiß Gott! Ihr Herr ist vor drei Jahren weg, und hört und sieht man nichts von ihm. Und sie hat ihn geliebt über alles. Mein Mann konnte nie fertig werden, wenn er anfing, von ihnen zu erzählen. Und noch! Ich sag's selbst, es gibt so kein Herz auf der Welt mehr. Alle Jahre den Tag, da sie ihn zum letzten Mal sah, läßt sie keine Seele zu sich, schließt sich ein, und auch sonst, wenn sie von ihm red't, geht's einem durch die Seele.
Madame Sommer: Die Unglückliche!
Postmeisterin: Wenn Sie mich nicht verraten wollen, kann ich's Ihnen wohl vertrauen. Es sind nun über die acht Jahre, daß sie hierher kamen.
Fortsetzung
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