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Gesellschaft & Medien 9/11
Mai 2006
"Die Kinder von der Straße holen"
Ein Bericht zur Arbeit der ARCHE in Hamburg
Knapp zehn Kilogramm hat sie noch gewogen, die siebenjährige Jessica aus Hamburg-Jenfeld, als die Polizei sie vor etwas über einem Jahr tot in der Wohnung ihrer Eltern fand. Verhungert war sie, über Jahre hinweg eingesperrt in ein abgedunkeltes Zimmer. Buchstäblich vertrocknet ohne Licht, ohne Zuwendung, ohne Nahrung, ohne Liebe. Die Obduktion des kindlichen Körpers legt nahe, dass Jessica zum Schluss sogar ihre eigenen Kopfhaare gegessen haben muss – ein letzter Akt der Verzweiflung.
Jessicas Tod hat Hamburg verändert. Hat ganz Deutschland schockiert – und die Aufmerksamkeit auf das Thema vernachlässigte Kinder gelenkt. Nicht nur auf die in materiellem Sinne messbare Armut unserer sozial schwachen Familien, sondern insbesondere auf die Armut der Kinder in Hinblick auf soziale Kontakte, auf liebevolle, zeitlich nicht begrenzte Zuwendung und auf hoffnungsvolle Lebensperspektiven.
Pastor Thies Hagge von der evangelischen Friedenskirche in Jenfeld hat die kleine Jessica letztes Jahr beerdigt. Seelsorgerisch betreut er ihre Mutter im Gefängnis bis heute. Für ihn war Jessica der Grund, die ARCHE in Hamburg zu initiieren, die Mitte Januar 2006 ihre Arbeit aufnahm, getragen von der medialen Aufmerksamkeit, die der "Fall Jessica" hervorgerufen hatte.
Das Vorbild der ARCHE Hamburg, das Kinder- und Jugendzentrum "Die Arche" in Berlin, wurde 1994 durch den Hamburger Pastor Bernd Siggelkow gegründet. Träger des Zentrums ist das Christliche Kinder- und Jugendwerk e.V. Ziel des Vereins ist es, Kinder von der Straße zu holen, sinnvolle Freizeitmöglichkeiten zu bieten und gegen soziale Defizite zu agieren, sowie Kinder wieder ins Zentrum der Gesellschaft zu stellen. "Zum zehnjährigen Bestehen des Vereins wollte ich auch meiner Heimatstadt Hamburg gern eine ARCHE schenken", so Siggelkow. Im Mai 2005 kam Thies Hagge nach Berlin, um sich über die ARCHE zu informieren und Siggelkows Gedanke bekam ein Gerüst. Die Hamburger "Arche" wurde am 18. Dezember 2005 eröffnet.
Hamburg -Jenfeld ist ein sozialer Brennpunkt. Merkbar ist dies bereits dann, wenn man sich dem Stadtteil mit öffentlichen Verkehrsmitteln nähert: Als ich im noch relativ nahe am Zentrum gelegenen Wandsbek in den Bus steige, ist der Unterschied im sozialen Gefälle offensichtlich: um die Mittagszeit befinden sich fast ausschließlich ausländische Kids im Bus, die durch lautes Gegröle sowie Showing Off mit ihren Handys Aufmerksamkeit suchen. Einige wenige verhärmt wirkende Hausfrauen erkenne ich irgendwo dazwischen. Von der Haltestelle Jenfeld-Zentrum sind es nur wenige Schritte bis zur Friedenskirche, auf deren Gelände sich auch die Räumlichkeiten der ARCHE befinden.
Der Hausmeister hat zu meiner Ankunftszeit um 12:30 soeben die Tür geöffnet und nimmt mich herzlich in Empfang. Die Kinder (im Alter von 5 – 12 Jahren, wer ein bissl drüber ist, wird aber nicht abgewiesen!) werden ab 13 Uhr erwartet, dann gibt es die Möglichkeit zu einer warmen, gehaltvollen Mahlzeit, erklärt er mir. Bis 16 Uhr werden die Kinder dann von drei hauptamtlichen und zehn nebenamtlich-ehrenamtlichen Mitarbeitern betreut.
Ich sehe mich etwas um, und dann erwartet mich auch schon Tobias Lucht, der Leiter der Hamburger Arche. Er ist studierter Sozialpädagoge und schmeißt den Laden. Kurz nach ihm trifft auch Pastor Thies Hagge ein, und ich zwinge beide zu einem Bestandsfoto.
Foto: Corinna Kahl
Mit Hagge setze ich mich dann erstmal nach draußen in den Hof, um bei ortsunüblichem Sonnenschein ein wenig von der Arbeit und dem "Werdegang" der Arche zu erfahren. Er erklärt mir, dass die ARCHE sich komplett OHNE öffentliche oder kirchliche Mittel finanziert, dennoch mit der Friedenskirche kooperiert (auf deren Gelände sie sich ja auch befindet).
Der christliche Gedanke ist dennoch präsent: Im Hintergrund läuft schon seit meiner Ankunft christliche Popmusik, und viele ehrenamtliche Mitarbeiter "rekrutieren" sich auch aus der Gemeinde.
Bei den Kindern werden natürlich keine religiösen Unterschiede gemacht, und anhand der niedlichen Steckbriefe überall an den Wänden erkenne ich die vielfältige Herkunft der Kinder: Türkei, Afghanistan, Ghana… . Mit Barbies spielen die Mädels augenschein-lich am liebsten, völlig unabhängig von der Konfession. 30 bis 60 Kinder kommen täglich in die ARCHE. Das Essen wird – noch – angeliefert, da die Küche der ehemaligen Pfarrei (welche 1999 renoviert wurde) viel zu klein dafür ist, um dort für alle selbst zu kochen.
Letzte Änderung: 14.06.2012 
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