Knapp zehn Kilogramm hat sie noch gewogen, die siebenjährige Jessica aus Hamburg-Jenfeld,
als die Polizei sie vor etwas über einem Jahr tot in der Wohnung
ihrer Eltern fand. Verhungert war sie, über Jahre hinweg eingesperrt
in ein abgedunkeltes Zimmer. Buchstäblich vertrocknet ohne Licht,
ohne Zuwendung, ohne Nahrung, ohne Liebe. Die Obduktion des kindlichen
Körpers legt nahe, dass Jessica zum Schluss sogar ihre eigenen Kopfhaare
gegessen haben muss – ein letzter Akt der Verzweiflung.
Jessicas Tod hat Hamburg verändert. Hat ganz Deutschland schockiert – und
die Aufmerksamkeit auf das Thema vernachlässigte Kinder gelenkt.
Nicht nur auf die in materiellem Sinne messbare Armut unserer sozial
schwachen Familien, sondern insbesondere auf die Armut der Kinder
in Hinblick auf soziale Kontakte, auf liebevolle, zeitlich nicht
begrenzte Zuwendung und auf hoffnungsvolle Lebensperspektiven.
Pastor Thies Hagge von der evangelischen Friedenskirche in Jenfeld hat
die kleine Jessica letztes Jahr beerdigt. Seelsorgerisch betreut
er ihre Mutter im Gefängnis bis heute. Für ihn war Jessica der Grund,
die ARCHE in Hamburg zu initiieren, die Mitte Januar 2006 ihre Arbeit
aufnahm, getragen von der medialen Aufmerksamkeit, die der "Fall
Jessica" hervorgerufen hatte.
Das Vorbild der ARCHE Hamburg, das Kinder- und Jugendzentrum "Die Arche" in Berlin, wurde 1994 durch
den Hamburger Pastor Bernd Siggelkow gegründet. Träger des Zentrums
ist das Christliche Kinder- und Jugendwerk e.V. Ziel des Vereins
ist es, Kinder von der Straße zu holen, sinnvolle Freizeitmöglichkeiten
zu bieten und gegen soziale Defizite zu agieren, sowie Kinder wieder
ins Zentrum der Gesellschaft zu stellen. "Zum zehnjährigen Bestehen
des Vereins wollte ich auch meiner Heimatstadt Hamburg gern eine
ARCHE schenken", so Siggelkow. Im Mai 2005 kam Thies Hagge nach
Berlin, um sich über die ARCHE zu informieren und Siggelkows Gedanke
bekam ein Gerüst. Die Hamburger "Arche" wurde am 18. Dezember 2005 eröffnet.
Hamburg -Jenfeld ist ein sozialer Brennpunkt. Merkbar
ist dies bereits dann, wenn man sich dem Stadtteil mit öffentlichen
Verkehrsmitteln nähert: Als ich im noch relativ nahe am Zentrum
gelegenen Wandsbek in den Bus steige, ist der Unterschied im sozialen
Gefälle offensichtlich: um die Mittagszeit befinden sich fast ausschließlich
ausländische Kids im Bus, die durch lautes Gegröle sowie Showing
Off mit ihren Handys Aufmerksamkeit suchen. Einige wenige verhärmt
wirkende Hausfrauen erkenne ich irgendwo dazwischen. Von der Haltestelle
Jenfeld-Zentrum sind es nur wenige Schritte bis zur Friedenskirche,
auf deren Gelände sich auch die Räumlichkeiten der ARCHE befinden.
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Der Hausmeister hat zu meiner Ankunftszeit um 12:30 soeben die Tür geöffnet
und nimmt mich herzlich in Empfang. Die Kinder (im Alter von 5 –
12 Jahren, wer ein bissl drüber ist, wird aber nicht abgewiesen!)
werden ab 13 Uhr erwartet, dann gibt es die Möglichkeit zu einer
warmen, gehaltvollen Mahlzeit, erklärt er mir. Bis 16 Uhr werden
die Kinder dann von drei hauptamtlichen und zehn nebenamtlich-ehrenamtlichen Mitarbeitern betreut.
Ich sehe mich etwas um, und dann erwartet
mich auch schon Tobias Lucht, der Leiter der Hamburger Arche. Er
ist studierter Sozialpädagoge und schmeißt den Laden. Kurz nach
ihm trifft auch Pastor Thies Hagge ein, und ich zwinge beide zu einem Bestandsfoto.
Mit Hagge setze ich mich dann erstmal nach draußen
in den Hof, um bei ortsunüblichem Sonnenschein ein wenig von der
Arbeit und dem "Werdegang" der Arche zu erfahren. Er erklärt mir,
dass die ARCHE sich komplett OHNE öffentliche oder kirchliche Mittel
finanziert, dennoch mit der Friedenskirche kooperiert (auf deren
Gelände sie sich ja auch befindet).
Der christliche Gedanke ist dennoch
präsent: Im Hintergrund läuft schon seit meiner Ankunft christliche
Popmusik, und viele ehrenamtliche Mitarbeiter "rekrutieren" sich
auch aus der Gemeinde.
Bei den Kindern werden natürlich keine religiösen
Unterschiede gemacht, und anhand der niedlichen Steckbriefe überall
an den Wänden erkenne ich die vielfältige Herkunft der Kinder: Türkei,
Afghanistan, Ghana… . Mit Barbies spielen die Mädels augenschein-lich
am liebsten, völlig unabhängig von der Konfession. 30 bis 60 Kinder
kommen täglich in die ARCHE. Das Essen wird – noch – angeliefert,
da die Küche der ehemaligen Pfarrei (welche 1999 renoviert wurde)
viel zu klein dafür ist, um dort für alle selbst zu kochen.
Fortsetzung
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