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Esoterik 2/8
Januar 2007
Die Kraft der Rituale
Klar und deutlich formuliert er ein paar liebevolle Abschiedsworte an uns, dankt uns für seine Kindheit, wieder ganz unbeirrt von der Unsicherheit, die in der Luft liegt. Es scheint keine Gruppendynamik für ihn zu geben, die ihn jetzt mitreißt aus seinen Gefühlen heraus, zu denen er offenbar stehen kann. Nie wurde mir seine ureigene Kraft und Stärke deutlicher bewusst. Eine Kraft, die vielleicht einfach woanders liegt, als es gesellschaftlich möglicherweise angesagter wäre, denn viele Schwierigkeiten mussten er und wir mit ihm, immer wieder innerhalb des Schulsystems meistern. Als die Jungs sich umdrehen und ihren Blick auf das Tor richten, dürfen auch wir ihm noch einen Abschiedssatz mitgeben. Wir legen jeder eine Hand auf seinen Rücken und geben ihm so unsere Kraft. „Wir stärken dir den Rücken!“ und vollkommen ehrlich, zutiefst überzeugt nach der vergangenen Stunde und aus ganzem Herzen höre ich mich sagen: "Ich weiß ganz sicher, dass du DEINEN Weg gehen wirst. Ich liebe dich." . Er steht ganz ruhig. Wir lösen unsere Hände vorsichtig , mir laufen ein paar Tränen und dann geht er durch das Tor...
Am Tor wird er empfangen. Ein urig angezogener Mann und Mitinitiator der „Phönixzeit“, Visionssuche für männliche Jugendliche( www.phoenixzeit.de), nimmt ein Schwert, was im Boden steckt und sagt laut: "Ahhhh, seht her, da kommt ein Kind, seht: Mütter, Väter, Großeltern, alle, seht nur, wer kommt denn da?.....Ein Kind, was an der Schwelle steht. Willst du rüber, über die Schwelle...willst du? Ja, sag..." und dabei klopfte er ihn mit einer Feder ab, überall ." Seht her, kein Kind mehr...ein junger Mann kommt da , er geht über die Schwelle jetzt, den ersten Schritt." Und leiser werdend an Jascha gewandt: "Achte diesen Platz, sei gut und achtsam mit ihm, achte die anderen Menschen hier, achte die Tiere des Waldes, die Pflanzen und achte DICH......willkommen." Ich bin zutiefst bewegt, als mein Sohn über die Schwelle geht.
Er wird nun fünf Tage hier bleiben, Erfahrungen in einer Männerrunde machen und 24 Stunden davon allein, fastend und auf sich selbst gestellt, im Wald verbringen. Am fünften Tag wird er hier über dieselbe Schwelle getragen werden, zu uns zurückkommen und gefeiert werden. Ich spüre die große Kraft von Ritualen wieder einmal. Etwas völlig anderes ist das ,als darüber nach zu denken oder darüber zu lesen. Hier werden Erfahrungen gemacht, die sofortige Veränderung zur Folge haben. Mich hat die Initiationszeit meines Sohnes und alle damit zusammenhängenden Rituale unmittelbar verändert, ihn natürlich auch. Er ist nicht mehr der, der er vor seinen „Phönixtagen“ war und ich auch nicht. Ich sehe und empfinde ihn anders. Ich weiß jetzt, er ist gar nicht der kleine chaotische Träumer, dem ich weiterhin noch ganz viel helfen muss. Mein Bild, was ich vorher von ihm hatte, gibt es nicht mehr. Innerhalb des Rituals ist ein neues Verständnis für ihn gewachsen und Vertrauen in seine Kraft, in seinen Weg. Er steht bereits auf eigenen, festen Beinen. Ich darf ihn ruhig (los)lassen.
Foto: Bettina Lietz
Ein Ritual (von lateinisch ritualis = "den Ritus betreffend") ist eine nach festgelegten Regeln durchgeführte, sehr bewusste, meist feierliche Handlung mit hohem Symbolgehalt. Rituale vermitteln uns in Zeiten der Unsicherheit und in Umbruchssituationen ein Gefühl von Sicherheit und verleihen dem Alltag eine gewisse Stabilität zurück. Rituale geben der Seele Halt und Kraft und verhindern, dass wir uns verloren fühlen. Nichts bleibt wie es ist, aber wir neigen dazu, festhalten zu wollen, bewahren, behalten, was wir schätzen. Oft tun wir uns schwer mit Veränderungen und machen uns dadurch das Leben schwerer, als es eigentlich ist. Wir bleiben verschlossen für das Neue, wenn wir dafür nicht Platz machen. Ein Ritual bildet Raum fürs Platz schaffen. Rituale unterstützen Loslassprozesse. Sie ermöglichen die symbolische Auseinandersetzung mit Grundfragen der menschlichen Existenz, etwa dem Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Beziehung, dem Streben nach Sicherheit und Ordnung, dem Wissen um die eigene Sterblichkeit oder dem Glauben an eine transzendente Wirklichkeit (z. B. durch Freundschaftsrituale, Staatsrituale, Begräbnisrituale, Grabbeigaben). Derartige Rituale sind Ausdruck des menschlichen Selbstbewusstseins und Ausdruck von Auseinandersetzung und Erfassen der Vergänglichkeit. Rituale helfen uns, tief hinein zu tauchen ins Unvermeidliche, durch eine bewusste Inszenierung dessen. Wir machen quasi die Veränderung zu einem Fest, anstatt sie zu ignorieren oder zu verdrängen. Rituale binden uns somit ein in den Lebenskreis.
 
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