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Gesellschaft & Medien 5/9
Januar 2007
Wenn Gesetze Salto schlagen
Wenn der gesunde Menschenverstand nicht aus dem Leben fällt, kann ich mir nur vorstellen, dass der Staat einem jungen Menschen, der völlig unschuldig zwischen Gesetze, Recht und Ordnung geraten ist, schnell und unkonventionell hilft und unterstützt.
Und Susanne?
Ihre deutsche Staatsbürgerschaft wäre um Nasenlänge der deutschen Grenze zum Opfer gefallen. Die deutschen Grenzen von 1936 und die starre Bürokratie waren entscheidend, das menschliche Schicksal hätte kein Erbarmen gefunden.
Susanne wurde bereits vor ihrer Geburt zur Adoption freigegeben. Ihre Mutter (selbst unehelich) verheimlichte ihre Liaison mit einem amerikanischen Besatzungssoldaten und die daraus resultierende Schwangerschaft vor ihrer bigotten Familie, die sich nach der Vertreibung aus Niederschlesien in einem kleinbürgerlichen Nest in Ostwestfalen niedergelassen hatte.
Ihre Adoptiveltern stammten aus der ehemaligen DDR und flohen 1959 vor dem Bau der Mauer in den Westen. Da sie keine eigenen Kinder bekommen konnten, freuten sie sich über die Möglichkeit, Susanne ein neues Zuhause bieten zu können. Drei Monate nach ihrer Geburt (solange hatte die leibliche Mutter noch ein "Widerrufsrecht") kam Susanne zu ihren neuen Eltern ins Ruhrgebiet, wo sie sich wohl und zuhause fühlte. Eigentlich könnte man die kleine Familie in Ruhe leben und Susanne in Geborgenheit aufwachsen lassen, was ja auch gelang - bis zu ihrem 29. Lebensjahr.
Auslöser war eine Anfrage bei den Behörden. Um die Einbürgerung ihres nicht deutschen Ehemanns zu beantragen, musste Susanne selbst nachweisen, deutsche Staatsangehörige zu sein. Auch hier wiederum schliefen die Staatsdiener nicht. Sie kannten sich präzise aus mit den Gesetzen der deutschen Staatsbürgerschaft.
Laut Adoptionsgesetz von 1976 sind Adoptivkinder leiblichen Kindern absolut gleichgestellt, sie haben die gleichen Rechte und Pflichten. Da Susanne aber vor Inkrafttreten der Adoptionsgesetze von 1976 adoptiert wurde, galten für sie die Abstammungsbestimmungen des alten Adoptionsrechts, welches zusammen mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch 1900 in Kraft getreten war – und seitdem (bis 1976) keinerlei gravierende Änderungen erfahren hatte.
Susannes Staatsangehörigkeit leitete sich demnach nicht von ihren Adoptiveltern, sondern von ihren leiblichen Eltern ab. Für die junge Frau kam ein Stein ins Rollen, der ein kompliziertes und akribisches Vorgehen erforderte. Da ihre leiblichen Vorfahren niemals rechtmäßig eingebürgert worden waren, musste sie ein Dokument aufbringen, welches bestätigte, dass sich jemand von ihren Vorfahren vor 1912 rechtmäßig auf deutschem Boden aufgehalten hatte.
"Deutscher Boden" wird hierbei nach den Grenzen Deutschlands von 1936 definiert, also vor Deutschlands unrechtmäßiger Annexion der Tschechoslowakei, in den Grenzen der "alten Ostgebiete", welche einen großen Teil des heutigen Polens beinhalten.
Nach langen Nachforschungen wurde man fündig. Mit Susannes Urgroßvater hatte man einen Vorfahren ermittelt, der vor 1912 in der damaligen deutschen Stadt Brieg geboren war. Brieg ist heute die polnische Stadt Brzeg in Niederschlesien. Mit dem Auffinden der Geburtsurkunde des Urgroßvaters war nach heute gültigem Grundgesetz bewiesen, dass Susanne wirklich und tatsächlich eine "echte" Deutsche ist. Es wurde ihr eine bestätigende Urkunde ausgestellt, die damals vor 10 Jahren DM 50,-- kostete. Bei der Übergabe dieses bedeutenden Dokuments stellte Susanne dem Staatsdiener unbefangen eine beinahe folgenschwere Frage: "Was wäre denn, wenn dieses Brieg sich ein paar Kilometer weiter östlich befunden hätte?" Die Antwort war kurz und bitter. "Die deutsche Staatsbürgerschaft wäre Geschichte." Der deutsche Pass wäre auf der Stelle eingezogen und Susanne mit sofortiger Wirkung staatenlos geworden. Sie hätte einen polnischen Pass beantragen und anschließend einen Antrag auf Einbürgerung in Deutschland stellen müssen. Man beteuerte allerdings, dass dies keine allzu große Sache geworden wäre, denn schließlich spräche sie sehr gut Deutsch und hätte sich auch "in gutem Glauben" die letzten 10 Jahre rechtmäßig auf deutschem Boden aufgehalten.
Gesetze sind notwendig, sie können schützend und richtungsweisend sein. Starre Gesetze können unflexibles Handeln bewirken und Menschlichkeit vermissen lassen. Gesetze können aber auch neu bedacht und der heutigen, weltweit geöffneten Zeit angepasst werden, damit zwischen Gesetzen und menschlichem Verhalten Annäherung und Ausgewogenheit entstehen kann.
"Ist denn keiner bereit, mal was zu ändern?
Ist denn keiner bereit, mal was zu riskiern?"
(aus: Bereit (c) Daniel Küblböck)
Text: Uscha Wolter

Pass / Foto: Wikipedia "Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, ein Pass niemals. – Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird". (Brecht)

 
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