Wenn Gesetze Salto schlagen
Fortsetzung von Seite 4
Wenn der gesunde Menschenverstand nicht
aus dem Leben fällt, kann ich mir nur vorstellen, dass der Staat
einem jungen Menschen, der völlig unschuldig zwischen Gesetze,
Recht und Ordnung geraten ist, schnell und unkonventionell hilft und unterstützt.
Und Susanne?
Ihre deutsche Staatsbürgerschaft wäre um Nasenlänge der deutschen
Grenze zum Opfer gefallen. Die deutschen Grenzen von 1936 und die
starre Bürokratie waren entscheidend, das menschliche Schicksal
hätte kein Erbarmen gefunden.
Susanne wurde bereits vor ihrer Geburt
zur Adoption freigegeben. Ihre Mutter (selbst unehelich) verheimlichte
ihre Liaison mit einem amerikanischen Besatzungssoldaten und die
daraus resultierende Schwangerschaft vor ihrer bigotten Familie,
die sich nach der Vertreibung aus Niederschlesien in einem kleinbürgerlichen
Nest in Ostwestfalen niedergelassen hatte.
Ihre Adoptiveltern stammten
aus der ehemaligen DDR und flohen 1959 vor dem Bau der Mauer in
den Westen. Da sie keine eigenen Kinder bekommen konnten, freuten
sie sich über die Möglichkeit, Susanne ein neues Zuhause bieten
zu können. Drei Monate nach ihrer Geburt (solange hatte die leibliche
Mutter noch ein "Widerrufsrecht") kam Susanne zu ihren neuen Eltern
ins Ruhrgebiet, wo sie sich wohl und zuhause fühlte. Eigentlich
könnte man die kleine Familie in Ruhe leben und Susanne in Geborgenheit
aufwachsen lassen, was ja auch gelang - bis zu ihrem 29. Lebensjahr.
Auslöser war eine Anfrage bei den Behörden. Um die Einbürgerung
ihres nicht deutschen Ehemanns zu beantragen, musste Susanne selbst
nachweisen, deutsche Staatsangehörige zu sein. Auch hier wiederum
schliefen die Staatsdiener nicht. Sie kannten sich präzise aus mit
den Gesetzen der deutschen Staatsbürgerschaft.
Laut Adoptionsgesetz von 1976 sind Adoptivkinder leiblichen Kindern absolut gleichgestellt,
sie haben die gleichen Rechte und Pflichten. Da Susanne aber vor
Inkrafttreten der Adoptionsgesetze von 1976 adoptiert wurde, galten
für sie die Abstammungsbestimmungen des alten Adoptionsrechts, welches
zusammen mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch 1900 in Kraft getreten
war – und seitdem (bis 1976) keinerlei gravierende Änderungen erfahren hatte.
Susannes Staatsangehörigkeit leitete sich demnach nicht von
ihren Adoptiveltern, sondern von ihren leiblichen Eltern ab. Für
die junge Frau kam ein Stein ins Rollen, der ein kompliziertes und
akribisches Vorgehen erforderte. Da ihre leiblichen Vorfahren niemals
rechtmäßig eingebürgert worden waren, musste sie ein Dokument aufbringen,
welches bestätigte, dass sich jemand von ihren Vorfahren vor 1912
rechtmäßig auf deutschem Boden aufgehalten hatte.
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"Deutscher Boden" wird hierbei nach den Grenzen Deutschlands von 1936 definiert,
also vor Deutschlands unrechtmäßiger Annexion der Tschechoslowakei,
in den Grenzen der "alten Ostgebiete", welche einen großen Teil
des heutigen Polens beinhalten.
Nach langen Nachforschungen wurde
man fündig. Mit Susannes Urgroßvater hatte man einen Vorfahren ermittelt,
der vor 1912 in der damaligen deutschen Stadt Brieg geboren war.
Brieg ist heute die polnische Stadt Brzeg in Niederschlesien. Mit
dem Auffinden der Geburtsurkunde des Urgroßvaters war nach heute
gültigem Grundgesetz bewiesen, dass Susanne wirklich und tatsächlich
eine "echte" Deutsche ist. Es wurde ihr eine bestätigende Urkunde
ausgestellt, die damals vor 10 Jahren DM 50,-- kostete. Bei der
Übergabe dieses bedeutenden Dokuments stellte Susanne dem Staatsdiener
unbefangen eine beinahe folgenschwere Frage: "Was wäre denn, wenn
dieses Brieg sich ein paar Kilometer weiter östlich befunden hätte?"
Die Antwort war kurz und bitter. "Die deutsche Staatsbürgerschaft
wäre Geschichte." Der deutsche Pass wäre auf der Stelle eingezogen
und Susanne mit sofortiger Wirkung staatenlos geworden. Sie hätte
einen polnischen Pass beantragen und anschließend einen Antrag auf
Einbürgerung in Deutschland stellen müssen. Man beteuerte allerdings,
dass dies keine allzu große Sache geworden wäre, denn schließlich
spräche sie sehr gut Deutsch und hätte sich auch "in gutem Glauben"
die letzten 10 Jahre rechtmäßig auf deutschem Boden aufgehalten.
Gesetze sind notwendig, sie können schützend und richtungsweisend
sein. Starre Gesetze können unflexibles Handeln bewirken und Menschlichkeit
vermissen lassen. Gesetze können aber auch neu bedacht und der heutigen,
weltweit geöffneten Zeit angepasst werden, damit zwischen Gesetzen
und menschlichem Verhalten Annäherung und Ausgewogenheit entstehen kann.
"Ist denn keiner bereit, mal was zu ändern?
Ist denn keiner bereit, mal was zu riskiern?"
(aus: Bereit (c) Daniel Küblböck)
Text: Uscha Wolter
"Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch
nicht auf so einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch
kann überall zustande kommen, auf leichtsinnigste Art und ohne gescheiten
Grund, ein Pass niemals. – Dafür wird er auch anerkannt, wenn er
gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht
anerkannt wird". (Brecht)
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