Zurück zur Natur
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"Wilhelmsburg ist ein sozialer Brennpunkt. In den Hochhaussiedlungen rund um den Kinderbauernhof
leben viele Kinder mit ihren Familien von Hartz IV. Sie kennen daheim
nur das Fernsehen, weil für andere Vergnügungen das Geld fehlt.
Häufig erleben sie in der Wohnung Gewalt und Alkoholismus – keine
guten Voraussetzungen, um Disziplin und Verantwortungsbewusstsein
zu entwickeln", berichtet die ehrenamtliche Mitarbeiterin Bella
(38). Vielen Kindern fehlt ein Gefühl für soziale Strukturen. Sie
kennen keine herzlichen Bindungen, keine Handlungen, die aus Zuneigung
heraus geschehen. Sie kennen nur ihren PC. Ihre Besuche beim Kinderbauernhof
zeigen ihnen einen neuen Zugang zurück zur Natur.
Bella durchläuft derzeit eine zweieinhalbjährige Ausbildung zum Clown, aber
sie kommt auf den Kinderbauernhof, wann immer es ihr möglich ist.
"Ich organisiere die Kindergeburtstage und betreue das "Muckelland",
ein Gebäude und ein Freigehege für die Kaninchen. Hier erhalte
ich im Umgang mit den Kindern die Praxis, die ich später für meine
Tätigkeit als Clown gut gebrauchen kann."
Bis zu 30 "Stammkinder" besuchen den Kinderbauernhof fast täglich. Durch kleinere Arbeiten
können sie sich "Fleißpunkte" verdienen: Unter der fachkundigen
Anleitung der Helfer füttern und versorgen sie die Tiere, helfen
bei der Stallreinigung und auch schon einmal bei der medizinischen
Erstversorgung, etwa wenn sich ein Tier eine Wunder zugefügt hat.
"Die Kinder "sparen" auf ein Pflegetier. Für acht Punkte können
sie zum Beispiel ein Kaninchen, für zehn Punkte ein Pony adoptieren",
erklärt Bella weiter. "Für ihr Adoptivtier sind sie dann auch
verantwortlich! Und wenn sie ein paar Wochen lang nicht mehr hier
auftauchen, so "verfällt" das Tier. Die Kinder müssen es sich
dann erst erneut "erarbeiten". So lernen sie die nötige Disziplin
im Umgang mit anderen Lebewesen und entwickeln ganz automatisch
ein gesundes Verantwortungsbewusstsein."
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Jasmin und ihre Gruppe haben mittlerweile das "Heubodenspringen" absolviert, und erwarten
gespannt eines der Highlights ihres Aufenthalts auf dem Kinderbauernhof:
Das Ponyreiten! Ohne zu streiten reihen sich die Kids in eine
ordentliche Schlange auf, und eines nach dem anderen wird vorsichtig
auf den Rücken der Pferde gehoben. Für das Ponyreiten und für
die zusätzlichen Aktivitäten wie das Heubodenspringen oder das
Mittagessen werden Pauschalbeiträge fällig, aber der Besuch des
Kinderbauernhofs ist selbstverständlich kostenlos!
Bis zu 150 Nutz- und Kleintiere (darunter Ziegen, Schafe, Schweine, Ponys,
Esel, Hühner, Kaninchen, Frettchen, Mäuse und Bienen) wollen an
365 Tagen im Jahr betreut und versorgt werden. "Uns entstehen
im Jahr ca. 45.000 Euro Fixkosten für den Unterhalt der Tiere
und für die Gebäudeerhaltung", so Gerd Horn. "Bis zu 60 Prozent
dieser Kosten können wir mittlerweile durch unsere organisierten
Kindergeburtstage decken, der Rest wird durch Spenden finanziert.
Unser Antrag auf öffentliche Fördergelder wurde leider vor kurzem abgelehnt."
Da hat Bürgermeister Ole von Beust, als er neulich
die Schirmherrschaft für das große Fest zum 20-jährigen Bestehen
des Kinderbauernhofs übernahm, wohl etwas vergessen... Behördliche
finanzielle Unterstützung hat der Hof seit sechs Jahren nicht
mehr erhalten. Seitdem ist der Betrieb nicht mehr ohne die Spendenbereitschaft
von Privatpersonen und das große Engagement der zahlreichen ehrenamtlichen
Helfer möglich. Als im letzten Jahr als Schutzmaßnahme gegen die
Vogelgrippe ein Zeltbau für die gefiederten Hofbewohner beschafft
werden musste, kam das nötige Geld von einer privaten Spende und
durch Sondermittel des Wilhelmsburger Beirates für Stadtentwicklung.
Den Aufbau erledigten Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks – gratis.
Der Kinderbauernhof, 1987 als Elterninitiative von Bewohnern
der SAGA-Hochhaussiedlung als Verein gegründet, möchte gern andere
dazu ermuntern, trotz aller Schwierigkeiten ähnliche Projekte
zu gründen. Mitzumachen ist ganz einfach: "Wer eigene Kinder hat,
kann auch gut mit anderen Kindern umgehen, es ist eine Herzgeschichte."
www.kibaho.de
Text + Fotos: Corinna Kahl
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