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Gesellschaft & Medien 2/6
Juni 2007
Zurück zur Natur
"Wilhelmsburg ist ein sozialer Brennpunkt. In den Hochhaussiedlungen rund um den Kinderbauernhof leben viele Kinder mit ihren Familien von Hartz IV. Sie kennen daheim nur das Fernsehen, weil für andere Vergnügungen das Geld fehlt. Häufig erleben sie in der Wohnung Gewalt und Alkoholismus – keine guten Voraussetzungen, um Disziplin und Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln", berichtet die ehrenamtliche Mitarbeiterin Bella (38). Vielen Kindern fehlt ein Gefühl für soziale Strukturen. Sie kennen keine herzlichen Bindungen, keine Handlungen, die aus Zuneigung heraus geschehen. Sie kennen nur ihren PC. Ihre Besuche beim Kinderbauernhof zeigen ihnen einen neuen Zugang zurück zur Natur.
Foto: Corinna Kahl
Bella durchläuft derzeit eine zweieinhalbjährige Ausbildung zum Clown, aber sie kommt auf den Kinderbauernhof, wann immer es ihr möglich ist. "Ich organisiere die Kindergeburtstage und betreue das "Muckelland", ein Gebäude und ein Freigehege für die Kaninchen. Hier erhalte ich im Umgang mit den Kindern die Praxis, die ich später für meine Tätigkeit als Clown gut gebrauchen kann."
Bis zu 30 "Stammkinder" besuchen den Kinderbauernhof fast täglich. Durch kleinere Arbeiten können sie sich "Fleißpunkte" verdienen: Unter der fachkundigen Anleitung der Helfer füttern und versorgen sie die Tiere, helfen bei der Stallreinigung und auch schon einmal bei der medizinischen Erstversorgung, etwa wenn sich ein Tier eine Wunder zugefügt hat. "Die Kinder "sparen" auf ein Pflegetier. Für acht Punkte können sie zum Beispiel ein Kaninchen, für zehn Punkte ein Pony adoptieren", erklärt Bella weiter. "Für ihr Adoptivtier sind sie dann auch verantwortlich! Und wenn sie ein paar Wochen lang nicht mehr hier auftauchen, so "verfällt" das Tier. Die Kinder müssen es sich dann erst erneut "erarbeiten". So lernen sie die nötige Disziplin im Umgang mit anderen Lebewesen und entwickeln ganz automatisch ein gesundes Verantwortungsbewusstsein."
Foto: Corinna Kahl
Jasmin und ihre Gruppe haben mittlerweile das "Heubodenspringen" absolviert, und erwarten gespannt eines der Highlights ihres Aufenthalts auf dem Kinderbauernhof: Das Ponyreiten! Ohne zu streiten reihen sich die Kids in eine ordentliche Schlange auf, und eines nach dem anderen wird vorsichtig auf den Rücken der Pferde gehoben. Für das Ponyreiten und für die zusätzlichen Aktivitäten wie das Heubodenspringen oder das Mittagessen werden Pauschalbeiträge fällig, aber der Besuch des Kinderbauernhofs ist selbstverständlich kostenlos!
Bis zu 150 Nutz- und Kleintiere (darunter Ziegen, Schafe, Schweine, Ponys, Esel, Hühner, Kaninchen, Frettchen, Mäuse und Bienen) wollen an 365 Tagen im Jahr betreut und versorgt werden. "Uns entstehen im Jahr ca. 45.000 Euro Fixkosten für den Unterhalt der Tiere und für die Gebäudeerhaltung", so Gerd Horn. "Bis zu 60 Prozent dieser Kosten können wir mittlerweile durch unsere organisierten Kindergeburtstage decken, der Rest wird durch Spenden finanziert. Unser Antrag auf öffentliche Fördergelder wurde leider vor kurzem abgelehnt."
Da hat Bürgermeister Ole von Beust, als er neulich die Schirmherrschaft für das große Fest zum 20-jährigen Bestehen des Kinderbauernhofs übernahm, wohl etwas vergessen... Behördliche finanzielle Unterstützung hat der Hof seit sechs Jahren nicht mehr erhalten. Seitdem ist der Betrieb nicht mehr ohne die Spendenbereitschaft von Privatpersonen und das große Engagement der zahlreichen ehrenamtlichen Helfer möglich. Als im letzten Jahr als Schutzmaßnahme gegen die Vogelgrippe ein Zeltbau für die gefiederten Hofbewohner beschafft werden musste, kam das nötige Geld von einer privaten Spende und durch Sondermittel des Wilhelmsburger Beirates für Stadtentwicklung. Den Aufbau erledigten Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks – gratis.
Der Kinderbauernhof, 1987 als Elterninitiative von Bewohnern der SAGA-Hochhaussiedlung als Verein gegründet, möchte gern andere dazu ermuntern, trotz aller Schwierigkeiten ähnliche Projekte zu gründen. Mitzumachen ist ganz einfach: "Wer eigene Kinder hat, kann auch gut mit anderen Kindern umgehen, es ist eine Herzgeschichte."
Text + Fotos: Corinna Kahl
 
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