zurück zur Startseite
Gesellschaft & Medien 9/9
August 2004
„Ich bin das Kind. Und denke wie ein Vater.“
Die eigene Kontrolle ist besser als das Vertrauen in die lieben Mitmenschen. Schwierigkeiten haben sie deswegen besonders mit Menschen, die nicht alles genauestens mit ihnen absprechen, die nicht zuverlässig und detailgenau sind in ihren Aussagen („Wann wollen wir wieder telefonieren?“ – „Kann ich Dir noch nicht genau sagen.“ – „Warum nicht?“). Häufig ersetzt diese totale Kontrolle auch das Zulassen von Nähe (was ja Vertrauen voraussetzt), für einen EKA sowieso die Hölle auf Erden und nicht selten von heftigen Panikattacken begleitet.

Ein weiterer Punkt ist das ständige Sich-zu-Höchstleistungen-Antreiben. Egal was man tut, wie lange man es tut, und wie intensiv man sich mit einer Sache auseinandersetzt, nie scheint es „genug“ zu sein. Man kann nicht genügend Überstunden ableisten, man kann die Wohnung nicht genügend sauber putzen, man kann nicht genug Geld ansparen – es „reicht“ nie. Zurückzuführen ist diese Verhaltensweise auf das frühere Bemühen des Kindes, es „irgendwie“ zu schaffen, den Vater oder die Mutter vom Trinken abzuhalten. Eine unmögliche Aufgabe, an der man nur scheitern kann. Übertragen auf die heutige Lebenssituation heißt dies für das EKA: Egal, was Du auch in Angriff nimmst, Dein Scheitern ist bereits vorprogrammiert. Erkennen tut es aber nur den Antrieb, es sich und den anderen immer und immer wieder „beweisen“ zu wollen.

Der in der Kindheit empfundene Wunsch, sich aus der (für einen selbst) so schmerzhaften und vor allem destruktiven Familiensituation herauszulösen, wird bald überdeckt von einem immensen Schuldgefühl. Man lässt seine Familie nicht im Stich! Verlangt der Vater oder die Mutter dazu noch die „bedingungslose Liebe“, so wird es dem Kinde unmöglich, sich aus dem Teufelskreis kranker Strukturen zu entfernen. In seinem späteren Leben wird es sich immer wieder solche Strukturen suchen, die denen seiner Kindheit ähneln. Es wird sich fragen, warum es nicht schon längst den Job gewechselt hat und stattdessen immer wieder versucht, dem cholerischen Chef gerecht zu werden. Warum es sich nicht schon längst von einem süchtigen (und vielleicht sogar gewalttätigen) Partner trennte. Warum es sich immer wieder von der fordernden und besitzergreifenden Freundin einspannen lässt. Warum es sich immer wieder in die Gesellschaft destruktiver, kranker Menschen begibt, von denen es keinerlei offen-ehrliche Zuneigung zu erwarten hat – und so schwer bis gar nicht von ihnen loskommt. Häufig hat das Kind auch einen sozialen Beruf gewählt, um seinem omnipräsenten Helfersyndrom Ausdruck zu verleihen.

Trotz allem wächst in dem EKA immer noch im Geheimen der Wunsch und das Verlangen danach, versorgt zu werden. Deshalb haben EKAs später auch so häufig finanzielle Probleme – und das unabhängig davon, wieviel sie tatsächlich verdienen. Es scheint nie genug zu sein.
Indem man sich selbst das Recht auf verantwortliche Selbstversorgung abspricht, unterstützt man eine der unausgesprochen gebliebenen Regeln der dysfunktionalen Familie: Du, Kind, darfst mich nicht verlassen, egal wie fehlerhaft ich auch bin. Deswegen darfst Du auch selbst nicht erwachsen und selbständig werden, denn nur, wenn Du von mir abhängig bleibst, muss ich mich nicht mehr davor fürchten, von Dir verlassen zu werden – so spricht der Alkoholiker.
Die Wut, die ein EKA auf seine Eltern – und auch auf sich selbst – empfindet, darf er nicht bewusst wahrnehmen, und er hat ja schon früh gelernt, seinen Wahrnehmungen keinen Wert beizumessen. Also richtet er die Wut in sein Inneres, wo sie zur Schwermut wird. Depressionen sind die Folge, die natürlich zunächst auch nicht als solche erkannt werden, stören sie doch den Drang nach Perfektionismus, den der EKA aufrechterhalten muss, wenn er in seinem Weltbild bestehen will.
Welch ein Vermächtnis für einen jungen Menschen, was für eine Bürde, die er da abzutragen hat, wenn er sich endlich mit den verdrängten Emotionen und dem inneren Verlangen konfrontiert, das ihm sein Leben zur Hölle macht – ganz ohne, dass er es merkte.
Es gehört viel Arbeit, Zeit, ehrliche Selbstreflexion und vor allem Geduld dazu, sich der Aufarbeitung einer solchen Kindheit zu stellen. Ganz werden die Symptome, Ängste und Zwangshandlungen vielleicht auch nie verschwinden, jedoch lassen sich deren Folgen abmildern, wenn man damit begonnen hat, seine ureigenen Intentionen besser begreifen und nachvollziehen zu können. Hilfe erfahren Erwachsene Kinder aus Alkohokranken Familien bei suchterfahrenen Psychologen, eine erste Anlaufstelle kann aber auch das Internetprogramm der anonymen Angehörigen von Alkoholikern sein (www.online.al-anon.de).
Auch wenn die Nicht-Bewältigung des späteren Lebens eine häufige Folge von Alkoholismus in der Familie ist, so ist sie nicht zwangsläufig. Es gibt immer Hoffnung und einen Weg aus dem Teufelskreis, der sich auch im Gelassenheitsspruch ausdrückt.
Der Gelassenheitsspruch (wird verwendet bei Al-Anon):
Gott gebe mir die Kraft, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann.
Gott gebe mir die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann.
Und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Corinna Kahl
 
Online-Magazin Im Endeffekt Ausgabe 4 · © 2004 danielwelt.de · Email info@im-endeffekt.net · Impressum