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Gesellschaft & Medien 8/9
August 2004
„Ich bin das Kind. Und denke wie ein Vater.“
Geht diese Taktik nicht auf, und ist das Kind zu erschlagen von Verantwortung und Schuldbewusstsein (hat es doch trotz aller Bemühungen darin versagt, die Mama oder den Papa vom Trinken abzuhalten), dann kann sich die Rolle des Kindes auch ins krasse Gegenteil verkehren: Es wird verhaltensauffällig, zeigt unkontrollierte Aggressionen gegen sich und andere, hat immer häufiger Probleme in der Schule oder mit Freunden, und versucht schlussendlich, dem Alptraum und Teufelskreis im eigenen Heim durch Flucht zu entkommen.
Weitere Muster können sein: Das totale Verdrängen – das Kind wird zum sogenannten „stillen Kind“, das versucht, überhaupt nicht mehr aufzufallen, weder im Guten, noch im Schlechten. Auf der sicheren Seite stehen. Bloß keine Aufmerksamkeit erregen. Nicht gesehen werden. Oder es entwickelt sich zum Klassenclown, der die Aufmerksamkeit und den Applaus seiner Mitschüler, Lehrer und Nachbarn erregen kann. Ersatz für die Aufmerksamkeit und die Bestätigung für sein bloßes Dasein, die es zu Hause nicht bekommt.
Eines ist jedoch bei allen gemeinsam. Dieses innere Drängen und Warten. Das Zählen der Stunden, Tage, Wochen, Monate und Jahre. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem man selbst endlich erwachsen ist. An dem man nur noch für sich selbst verantwortlich sein muss. An dem man sich nicht mehr um die anderen Gedanken zu machen braucht.
Das Kind wird erwachsen. Es zieht aus, es macht eine Ausbildung oder studiert, und nimmt sein Leben endlich selbst in die Hand. Vielleicht nimmt es sich einen Partner und gründet eine Familie. Doch dieses innere Drängen und Warten – das bleibt. Zunächst ganz unbemerkt in einer verschlossenen Kammer im Inneren seiner Seele. Doch das Schaben und Kratzen an der Tür dieser Kammer wird mit den Jahren immer lauter und lauter. Und irgendwann bricht das Schloss… und alle so lange unbefriedigten Sehnsüchte, alles, was in der Kindheit und Jugend so lange schmerzlichst vermisst wurde, schreit nach Erfüllung. Bloß – wie? Vor allem, wenn man gar nicht weiß, was man vermisst – weil man es nie besessen hat!
Was fehlt diesen EKAs konkret? Zunächst die Erfahrung der bedingungslosen Liebe. Einer Liebe, die Grundvertrauen schafft. Die einem ein Sicherheitsgefühl vermittelt, nur um seiner selbst willen lebens- und liebenswert zu sein. Diese Erfahrung kann nur in der allerfrühesten Kindheit gemacht werden, und dennoch sind die EKAs ihr ganzes Leben lang auf der Suche danach. Häufig projizieren sie diese Suche später auf ihre eigenen Kinder, von denen sie diese bedingungslose Liebe erwarten. Sind sie zu diesem Zeitpunkt bereits selbst süchtig, so wird die Problematik genau an diesem Punkt bereits auf die nachfolgende Generation übertragen. Ständige Selbstzweifel (häufig überdeckt durch Anflüge von Größenwahn – „Ich schaff das schon“,„Ich mach das schon“,„Ich krieg das schon irgendwie hin“) plagen die EKAs in allen Lebensbereichen.
Arme Kinder im Reichen Land
Armut der Kinder bedeutet aber auch, von Eltern geboren zu sein, die selbst arm aufgewachsen sind, deren Medium fast immer nur das Fernsehen ist, in deren Haushalten oft genug das TV-Gerät pausenlos läuft und die Werbung verinnerlicht wird: durch die ständige passive Berieselung der gesamten Familie kommt niemand auf die Idee, mit den Kindern zu spielen, spielerisch das Gedächtnis durch Memory oder Kartenspiele zu trainieren. Hier wird nicht der Wunsch geweckt, gemeinsam einen Spaziergang durch die Natur zu genießen, beim gemeinsamen Abendessen über die Erlebnisse des Tages zu sprechen. Statt dessen werden Wünsche nach den angepriesenen Produkten geweckt, die sich die Familie nicht oder kaum leisten kann. Die Armut wird dadurch Eltern und Kindern noch bewusster. Hier greift auch die Werbung für schnell zubereitete Mahlzeiten (da muss man nur kurz aufspringen, wenn die Mikrowelle piept). Die kleingedruckte Zutatenliste der Produkte wird nicht gelesen und so kommen viel zu fette, viel zu salzige Fertiggerichte auf den Tisch. Das heißt: arme Kinder wachsen dümmer und gleichzeitig fetter auf als ihre Schulkameraden aus gebildeten Mittelstandsfamilien, an denen das Werbegesäusel abprallt, weil man mit den Kindern spielt, wandert und Sport treibt, die Grund-begriffe der Ernährungslehre kennt und die Familie dementsprechend bekocht und spielerisch erzieht.
Kinder an der Armutsgrenze wachsen in einem Teufelskreis auf, der ihnen kaum ein Entkommen bietet. Statistisch gesehen ist das Kind aus schwierigem sozialen Umfeld, das Karriere macht, völlig unerheblich. Das sind absolute Ausnahmen. Gleichzeitig verlangen die zu vergebenden Jobs immer mehr Qualifizierung. Selbst der Müllfahrer muss heute den elektronischen Tonnengreifer via Tastatur bedienen können.
Mir ist seinerzeit, wenn ich von diesem kleinen Jungen erzählte, der um das Bett weinte, mehrfach gesagt worden, dass seine Eltern schuld seien und die sollten erst mal in die Pflicht genommen werden ... Was bitte, kann ein Kind dafür, wenn seine Eltern versagen?
Viele gutwillige Eltern sind aufgrund von Arbeitslosigkeit und aus anderen Gründen nicht in der Lage, ihrem Kind optimale Bildungschancen zu bieten.
In keinem Fall können die Kinder etwas dafür, wenn unser System sie schon im Kindergarten ausgrenzt.
Nina Dorfmüller · Foto: Nina Dorfmüller
Diese Selbstzweifel drücken sich häufig auch in einem überhöhten Drang nach Kontrolle in allen Lebensbereichen aus. Jemand, der in seinem kindlichen Alltag niemals Sicherheit finden konnte („Ist Mama heute nüchtern und lieb, wenn ich aus der Schule komme? Oder hat sie getrunken – und wird ihre Aggressionen an mir auslassen?“ – „Geht Papa dieses Wochenende wirklich mit mir Schwimmen, so wie er’s mir so lange schon versprochen hat? Oder führt ihn sein Weg stattdessen doch wieder in die Kneipe?“), sehnt sich ein Leben lang danach, nichts mehr dem Zufall überlassen zu müssen.
 
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