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AIDS-Sonderseiten 8/10
August 2008
Interview mit Dr. Volker Mertens
Sie zerbrechen nicht an erster Stelle am Virus, sondern am Unverständnis der Anderen. Um dies zu vermitteln, muss man es erst einmal selbst verinnerlicht haben, und das ist manchmal schon schwierig.
IE: In einem Fernsehbeitrag wurde ein HIV-positiver Jugendlicher interviewt, der sagte, er habe keine Angst vor der Krankheit, sondern Angst vor der Gesellschaft. Deshalb hat er niemandem von seiner Krankheit erzählt.
Dr. Mertens: Wir hatten jetzt erst wieder eine Hilfsanfrage… Eine unserer Mitarbeiterinnen kam herein und sagte: Ich bin ganz aufgeregt, ich hab jetzt jemandem helfen können! Das war so ein schwerer Fall oder so ein schweres Schicksal, ich muss euch das erzählen. Das war auch ein 17-jähriger oder 18-jähriger Jugendlicher aus Ostdeutschland, der homosexuell war- dies seinen Eltern aber nicht gesagt hatte, weil er sich nicht getraut hat, wohl ein sehr rigides Elternhaus – der sich infiziert hatte, anscheinend schon beim ersten oder zweiten Sexualkontakt und jetzt auch noch HIV-positiv war. Er hat sich dann seinen Eltern offenbart, nicht nur als homosexuell, sondern auch als HIV-positiv. Die haben ihn rausgeworfen… Völliges Unverständnis, der stand vor dem Nichts, der hatte kein Zuhause mehr, war vielleicht grad mal volljährig geworden. Die hatten ihm nur den Koffer mitgegeben und rausgeschickt. Dann stand er bei der Aidshilfe vor der Tür und fragte: Was mach ich denn jetzt? Auch auf dem Gymnasium wollte niemand mehr etwas mit ihm zu tun haben. Da musste die Aidshilfe quasi sein Leben neu organisieren. Das sind so Sachen, die glaubt man gar nicht. Die Krankheit selbst ist schon schwer genug, aber was dann so eine Familie so nem Kind antut, das ist noch viel schlimmer.
Er hat dann einen anderen Schulplatz gefunden, das war so ein mathematisch-naturwissenschaftlicher Zweig und er brauchte ganz dringend einen Laptop oder einen PC. Wir haben ihm dann einen gebrauchten PC finanziert. Das war für ihn ein Geschenk des Himmels, dass auch mal jemand da war, der sagte: wir stehen zu dir und du kriegst Geld und du hast jetzt einen eigenen PC.
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IE: Gibt es irgend etwas, das Sie unseren Lesern gern noch sagen möchten?
Dr. Mertens: Ich kann einfach nur noch einmal wiederholen:
Vergesst nicht, Aids ist eine unheilbare Krankheit, immer noch, egal was in der Zeitung zu lesen ist, oder wenn wieder mal ne neue Pille erfunden wird oder ein neues Medikament, das das Leben erleichtert, es wird diese Krankheit nicht heilen und euer Leben ist das Kostbarste, was ihr habt. Achtet darauf, benutzt die Kondome, wir haben sie, Daniel verteilt sie… Nehmt sie und denkt immer dran: Liebe macht oft blind. Es geht gar nicht so oft um diese „one-night-stands“, wo jemand einen anderen attraktiv findet, aber genau weiß, das ist für eine Nacht, wir wollen beide Spaß haben. Da wird oft sehr rational auch mit Kondomen Sex erlebt; beide trennen sich, sind glücklich und sagen: Das war’s. Es ist oftmals dieses „Hals-über-Kopf-Verliebtsein“, sich völlig in so eine Beziehung stürzen und nicht sehen, dass alle Menschen diese Vorgeschichte haben. Wenn man nicht weiß, wie diese Vorgeschichte war, wenn man sich sagt: Das ist der Eine oder die Eine, da werde ich nie im Leben ein Kondom benutzen. Das kann der falsche Schritt sein. Man sollte gerade dann darauf achten, dass Liebe nicht blind macht und auch dann darauf bestehen, erstmal Kondome zu nehmen und sich auch beide testen zu lassen. Also zum einen immer den Kopf eingeschaltet lassen, auch wenn’s schwer fällt, zum anderen eben Mitgefühl haben, mit denen, die Pech gehabt haben, und nicht zu gucken: Sind die selber Schuld? Oder was auch immer, sondern wenn ein Mensch in Not gerät, dann auch zu helfen.
IE: Dann bedanke ich mich ganz herzlich für dieses sehr ausführliche Interview und dafür, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
Das Interview für die "Im Endeffekt" führte:
Sandra Janke
Foto: © Deutsche AIDS-Stiftung
CSD 2008 in Hamburg – Butter bei die Fische!
Aids und Schwule, Schwule und Aids. In vielen Köpfen lebt die Vorstellung bis heute, dass sich das HI-Virus vorwiegend unter Homosexuellen verbreitet.
In den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts, als das HI-Virus erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde, fanden sich die ersten Opfer der Immunschwächekrankheit in der Schwulenszene Kaliforniens.
Ein Vorurteil wurde geboren, das an Gefährlichkeit wohl kaum zu überbieten ist.
Die Fakten: Das HI-Virus wird vor allem durch ungeschützten heterosexuellen Verkehr verbreitet, und es trifft global gesehen vor allem Frauen, die aufgrund ihrer körperlichen Gegebenheiten besonders gefährdet sind: In der Gruppe der 15- bis 25-Jährigen infizierten sind z.B. im südlichen Afrika über 75 Prozent Frauen! Laut einem Bericht der Deutschen AIDS-Stiftung infizieren sich
weltweit jährlich rund 4,3 Millionen Menschen mit dem HI-Virus, davon leben mehr als 90 Prozent in Ländern mit unzureichenden Gesundheitssystemen. Dem Abbau von internationalen Vorurteilen („Ich bin hetero, ich kann gar nicht erkranken!“) und der Prävention kann man also gar nicht genug Aufmerksamkeit verschaffen.
Indes beklagt sich die schwule Community: Die Medien machen uns zum Kasper. Wird über die Aktivitäten rund um den CSD berichtet, so sehen wir Bildern von bunten, ausgeflippten Menschen, denen man ihre täglich wechselnden Sexualpartner quasi vom Gesicht abzulesen meint.
Dass es sich beim CSD aber durchaus nicht nur um eine gigantische Party, sondern auch um die Vermittlung und Verbreitung politische Inhalte handelt, kolportieren die wenigsten Medien. Und dass das eine das andere nicht ausschließen muss, und dass ferner
 
Online-Magazin Im Endeffekt Ausgabe 16 · © 2003 - 2008 danielwelt.de · Impressum · Printausgabe