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Gesellschaft & Medien 7/9
August 2004
„Ich bin das Kind. Und denke wie ein Vater.“
Aufgewachsen in einer alkoholkranken Familie.
Sie sind jung, dynamisch und beruflich zumeist erfolgreich. Sie verfügen über Führungsqualitäten, nehmen die schweren Seiten des Lebens mit Humor, und werden von ihren Mitmenschen häufig ob hrer Stärke und ihres Tatendrangs bewundert. Sie sind so um die dreißig, wenn sie endlich bemerken, wieviel in ihrem Leben eigentlich nicht stimmt, und von diesem Punkt an dauert es oft noch viele Jahre, bis sie kapitulieren, weil sie mit sich und ihrem Leben nicht mehr fertig werden. Sie können Hilfe finden, wenn sie dann erkennen, dass ihre Schwierigkeiten damit zusammenhängen, dass sie in einem Alkoholikerhaushalt aufgewachsen sind – eine Tatsache, die viele bis zuletzt verleugnen und verdrängen.
EKAs nennt Al-Anon (Gemeinschaft der Angehörigen von Alkoholikern) diese Menschen, Erwachsene Kinder aus Alkoholkranken Familien. Ihre Lebensgeschichten sind so vielfältig wie verschieden – jedoch gleichen sich die Auswirkungen auf ihr Leben auf beängstigende Art und Weise. Phasen schwerer Depressionen wechseln sich mit Phasen hektisch-unkontrollierter Aktivität („blinder Aktionismus“) ab – oft auch mit Phasen grenzenloser Lethargie. Auf himmelhoch jauchzend folgt zu Tode betrübt, denn in ihren Gefühlen kennen sie häufig genauso wenig Maß wie in ihrem Verhältnis zu Arbeit, Sex, Spiel oder Drogen. Das Sich-Einlassen auf andere Menschen fällt ihnen dagegen unglaublich schwer, wobei ihre Gegenüber dies in den seltensten Fällen bemerken, denn EKAs sind die besten Schauspieler der Welt. Ihre Rollen spielen sie in der Regel so gut, dass sie es häufig nicht einmal selbst bemerken, dass von ihrem wahren Selbst in der Realität kaum etwas übriggeblieben ist.
Gut, die beschriebenen Probleme teilen EKAs mit vielen Menschen. Dennoch belasten deren Auswirkungen gerade sie so stark, dass eine glückliche Lebensführung ab einem gewissen Punkt nicht mehr möglich ist, und häufig laufen sie Gefahr, selbst alkohol-, drogen- oder sonst wie süchtig zu werden, wenn sie nicht damit beginnen, sich mit den Folgen ihrer Kindheit auseinanderzusetzen.
Alkoholismus ist eine Familienkrankheit und wird oft von Generation zu Generation weitergegeben. Haben Sie einen Alkoholiker zum Vater oder zur Mutter gehabt? Dann stehen Ihre Chancen 60 zu 40, dass Sie sich einen ebenfalls süchtigen Menschen zum Partner auswählen. Trinkt Ihr Partner? Dann beobachten Sie ihre halbwüchsigen Kinder. Und vor allem: Beobachten Sie sich selbst. Worum haben Sie Ihr Lebenszentrum entwickelt? Schützen Sie ihren Partner vor der schmählichen Entdeckung seines Trinkens durch Freunde oder Arbeitskollegen? Entschuldigen Sie ihn, wenn er sich mal wieder beim letzten gemeinsamen Treffen mit Freunden im Ton vergriff? Nehmen Sie ihn in Schutz, wenn ihn am Tag darauf der Katzenjammer plagt? Kümmern Sie sich um Ihre Kinder, damit die nicht auf die Idee kommen, dumme Fragen zu stellen?
Herzlichen Glückwunsch – Sie sind bereits im Teufelskreis Alkoholismus gefangen. Sie sind das, was Al-Anon als „co-abhängig“ bezeichnet.
In jeder Familie spielt jedes Familienmitglied eine ganz bestimmte Rolle. In dysfunktionalen Familien (also in Familien, in denen keine gesunden Familienstrukturen entwickelt werden konnten) werden diese Rollenmuster krankhaft verzogen. Fällt ein Mitglied komplett aus dem Raster (was bei einem Alkoholiker kaum ausbleibt), sind die anderen Familienmitglieder gezwungen, diese Rollen zu ersetzen – und gegebenenfalls selbst zu übernehmen. Hat der Partner des Alkoholikers kein Gegenüber mehr, mit dem er die Probleme des Familienalltags besprechen kann, so muss oft das älteste Kind dafür herhalten, auch wenn es selbst vielleicht sogar der Verursacher dieser Probleme ist. Es werden Verantwortung und Sorgen auf die Schultern der Kinder gepackt, die diese noch längst nicht tragen sollten – und können.

Zunächst einmal gilt es jedoch, die Tatsache (und Folgen) des Trinkens innerhalb der Familie komplett zu verleugnen, da eine Anerkennung derselben eine zu große Schuld und Schmach für die Erwachsenen darstellen würde – für den kranken Menschen genauso wie für seinen Partner. Also wird in der Familie selbst und nach außen hin krampfhaft versucht, das intakte Bild einer heilen Familienwelt aufrecht zu erhalten. Ein EKA beschrieb dazu folgendes Bild: „In der Küche steht ein rosa Elefant. Und alle versuchen mit aller Kraft, diesen Elefanten zu ignorieren.“ Die Kinder lernen von früh an, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr zu vertrauen. Sie hören, wenn Mama den Papa auszankt, sie sehen, wie Papa morgens heimlich die leeren Weinflaschen der Mama entsorgt. Dennoch, so leben die Erwachsenen es vor, existiert das Alkoholproblem nicht. Es wird ausgeblendet. Nie gewesen. Das Kind kapiert schnell: Trau Deinen Wahrnehmungen nicht. Deine Eltern lieben Dich. Auch wenn sie Dir etwas vorspielen. Auch wenn sie Dich und Deine Probleme ignorieren, weil sie mit etwas anderem – nicht Existenten – beschäftigt sind. Auch wenn sie unkontrolliert ihre Aggressionen an Dir ausleben. Auch wenn sie Dich (auch grundlos) schlagen. Denn der Grund dafür – der existiert ja gar nicht. Nur in Deinen kranken, falschen Wahrnehmungen. Fazit für das Kind: Du bist schuld.

Aus diesem Schuldbewusstsein heraus übernimmt das Kind, das ja angewiesen ist auf die Bestätigung durch seine erwachsenen Leitfiguren, schnell den Part eines „Erwachsenen“, nicht selten sogar mit Stolz auf die Leistungen, die es schon in frühen Jahren vollbringen „darf“. Es tröstet die Mutter, es wischt heimlich die Kotze aus dem Badezimmer auf, es entsorgt die leeren Flaschen (oft auch die vollen, wenn es zufällig auf eines der Verstecke des Alkoholikers trifft), es kümmert sich um die Geschwister, und es gibt in der Öffentlichkeit die Rolle des humorigen, unbelasteten, in der Schule erfolgreichen Kindes, damit die anderen von seinen Eltern abgelenkt sind.
 
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